In seinen Lebenserinnerungen schreibt Carl von Linde (*1842 Berndorf, Kr. Kulmbach, †1934 München) über den denkwürdigen Tag im Mai 1895: Mit freudiger Spannung sahen wir die Temperatur nach dem von Joule und Thomson angegebenen Verfahren sinken, auch nachdem die bisherigen Grenzen weit überschritten waren. Die Rede ist von der Luftverflüssigung bei -190°C, die ihm die Zerlegung in Sauerstoff und Stickstoff ermöglichen und ganz neue Perspektiven in der Forschung eröffnen sollte. Damit war das Tor aufgestoßen für eine Fülle von Anwendungen in der Physik, Chemie, IT, Medizin, Raumfahrt…
Das schreibt der fränkische Pfarrerssohn, der begeisterte Maschinenbaustudent am Polytechnikum Zürich, der wegen der Teilnahme an einem Studentenprotest von der Hochschule fliegt, womit ihm das Ingenieurdiplom verwehrt wird. Frustriert aufgeben, auf den Ingenieurberuf verzichten? Kommt für Carl Linde nicht in Frage. Er fängt ganz unten an am Schraubstock in der Lokomotivenfabrik Borsig in Berlin und bei Krauß in München, wird Professor für Kältetechnik in München, quittiert den Staatsdienst und gründet die Firma „Lindes Eismaschinen“ in Wiesbaden.
Erfindung der künstlichen Kälte
Carl Linde wird zum Erfinder der künstlichen Kälte. Anstatt das Natureis aus Teichen einen ganzen Sommer lang in Kellern aufzubewahren, wendet er “nur” die Naturgesetze folgerichtig an, wird so zum Pionier der Kältetechnik, indem er die Theorie der Wärmekraftmaschine umkehrt und so zur Theorie der Kältemaschine kommt. Nicht Wärme zuführen und Arbeit gewinnen, sondern Arbeit zuführen und Wärme entziehen (=Kälte erzeugen). Lässt so ältere Verfahren als vorsintflutlich hinter sich. Seine Kältemaschine kühlt zuerst die Räume, in denen das Münchener Bier gelagert wird. Der Bierdurst der Bayern wird zum Motor des Fortschritts in der neuen Kältetechnik! Für die öffnet sich ein Füllhorn in der Lebensmittelkühlung, beim Transport, in diversen Fabrikationsprozessen und auch im Tiefbau bei der Vereisung des Bodens. Der krönende Abschluss ist dann die Luftverflüssigung mit den Schätzen der Atmosphäre „Sauerstoff, Stickstoff und Argon“, ohne die unser Leben nicht mehr vorstellbar ist. Er wird für seine Meriten von Prinzregent Luitpold von Bayern 1897 mit dem Verdienstorden der Bayerischen Krone ausgezeichnet und in den persönlichen Adelsstand erhoben. Er darf sich jetzt Carl Ritter von Linde nennen.
Er ist jedoch kein mit Scheuklappen durch das Labyrinth der Technik laufender Ingenieur, sondern ein liebender Familienvater mit sechs Kindern, ein im lutherischen Glauben Verwurzelter, ein Musik- und Naturfreund, ein Förderer der Naturwissenschaften. Seine Neugier als Erfinder, sein Durchhaltevermögen bei der Umsetzung seiner Ideen in die Praxis, sein Talent, auf die Erfordernisse der Kunden einzugehen und ihren Wunsch nach Qualität und Zuverlässigkeit zu erfüllen sind alles zeitlose Garanten für Erfolg. Sein oberstes Prinzip: Wie können wir es besser machen?
Schrit für Schritt erklärt: Die Verflüssigung von Luft.
So gelingt Carl Linde die Verflüssigung der Luft:
- Das gesamte System wird mit Druckluft von 20 bar aufgefüllt.
- Der Kompressor verdichtet die Luft auf 200 bar.
- Im Wasserkühler wird auf die Ansaugtemperatur zurückgekühlt.
- Im Gegenstrom-Wärmetauscher (zwei Rohre ineinandergesteckt, spiralig aufgerollt) wird sehr stark gekühlt.
- Im Drosselventil wird von 200 auf 20 bar entspannt, dabei kommt es durch den Joule-Thomson-Effekt zur Abkühlung (zu Anfang noch nicht zur Verflüssigung).
- Die kältere Luft wird durch den Wärmetauscher geführt und kühlt im Gegenstrom die Luft zum Drosselventil.
- Durch die Entspannung entsteht jetzt noch kältere Luft, die die Luft vor der Drossel und am Verdichtereintritt weiter abkühlt.
- Die Luft hinter der Drossel wird stetig kälter bis bei der isenthalpen Entspannung das Gebiet des Flüssigkeits-Gasgemisches bei -190°C erreicht wird.
- Flüssige Luft von 20 bar und -190°C kann jetzt abgefüllt werden, während die -190°C kalte gasförmige Luft zum Kompressor zurück geführt wird, ergänzt durch neue Druckluft aus der Flasche.